Die Stadt als Lebensraum? Asphalt, Beton, Straßen, hohe Gebäude, Autos und viele Menschen – in einem solchen Umfeld scheinen Wildtiere und -pflanzen kaum Platz zu haben. Zumindest nicht auf den ersten Blick. Doch wer mit offenen Augen unterwegs ist, wird immer wieder Erstaunliches entdecken.
Text: Ronald Lintner
Städte sind ein Mosaik aus vielfältigen Strukturen und Lebensraumelementen, die eng miteinander verwoben sind und sich immer wieder verändern. Die Natur macht vor den Stadtgrenzen nicht Halt und durchdringt auch den urbanen Raum. Das tut uns gut, denn sie verbessert damit nicht nur die Lebensqualität in der Stadt, sondern sorgt für besondere Erlebnisse und fördert unser Verständnis. In der Stadt kann man eine Vielfalt an Lebensräumen aufspüren: Entlang von Straßen entstehen Biotope, Brachflächen bieten ungestörte Räume, Bahndämme und Gleisanlagen wichtige Verbreitungskorridore. Für viele Wildtiere wird dieStadt als Lebensraum zunehmend attraktiv, z. B. weil hier jede Menge Speisereste zu ergattern sind. Städte gehören in Mitteleuropa sogar zu den artenreichsten Orten. Schnell lernen die Tiere, die Möglichkeiten für sich zu nutzen: Ein Feldhamster hastet zwischen den Gräbern eines Friedhofs, ein Eisvogel holt sich Fische aus einem Gartenteich, Kohlmeisen brüten auf Dachterrassen und der Biber, ein Öko-Ingenieur, baut seinen Bau am Fluss. Was man nicht vermutet hat, wird möglich: Naturbeobachtung mitten in der Stadt.
Wo der Mensch seine ordnende Hand zurückzieht, erobert sich die Natur ihr Recht zurück.
Brachflächen. Auch Siedlungsgebiete sind dem „Werden und Vergehen“ unterworfen. Wo Fabriken schließen, Häuser verfallen oder Lücken „vergessen“ werden, entstehen innerstädtische Brachflächen. Und gerade diese „Gstettn“ sind Paradiese der Vielfalt. Fällt die ursprüngliche Nutzung weg, eröffnet sich neuer Lebensraum, in dem sich Tiere und Pflanzen ansiedeln. Erstaunlich, wie schnell der offene Boden dann von Natternkopf, Nachtkerze, Birke und anderen Pionierpflanzenarten besiedelt wird und sich verschiedene Insekten- und Spinnenarten einfinden. Auf sonnigen, trockenen und insektenreichen Brachflächen fühlt sich etwa die Europäische Gottesanbeterin wohl und lauert auf ihre Beute. Sobald sich ein Insekt nähert, schnellen ihre Fangarme blitzschnell vor und schnappen die Mahlzeit. Auch die Wespenspinne ist häufig anzutreffen. Sie baut hier in den Gräsern ihr Radnetz zum Fangen von Heuschrecken und anderen Beutetieren.
Stadtgewässer. Fließgewässer, Seen, Teiche und Tümpel sind im urbanen Raum nicht nur erhöhten Belastungen durch Abwasser und Schadstoffe ausgesetzt, sondern auch der Begradigung, Regulierung oder Verbauung. Ob klein oder groß, natürlich entstanden oder künstlich angelegt, bieten sie aber Lebensraum für Flora und Fauna und erhöhen so die Artenvielfalt. Biber, Fischotter, Frösche und Schlangen, Libellen, Fische aber auch Vögel wie Reiher, Eisvogel, Haubentaucher kann man an städtischen Gewässern erspähen.
Gebäude. Vom Dach bis zum Keller, an der Fassade oder auf dem Balkon – Häuser können vielen Arten Lebensräume bieten: Vögeln, Fledermäusen, Kleinsäugern, Insekten, Spinnen und mehr. Im finsteren Keller wohnen? Was auf den ersten Blick wenig attraktiv scheint, ist für viele Tierarten unter bestimmten Bedingungen eine Alternative zu Höhlen und Felsnischen. Vorausgesetzt sind gleichmäßige Temperatur, konstant hohe Luftfeuchtigkeit, wenig Licht, keine Störungen – und die gewohnten Nischen und Löcher. Gut isolierte, betonierte Kellerräume sind oft zu trocken und zu warm. Sie bieten auch wenig Möglichkeiten für Verstecke. Ein brauchbarer Ersatz für Höhlen sind Erdkeller mit Kontakt zum Erdreich. Hier kann man manchmal auch Amphibien wie Erdkröten und Feuersalamander antreffen, die in den heißen, trockenen Sommermonaten einen idealen Unterschlupf und im Winter gelegentlich ein warmes Quartier vorfinden. Lichtschächte, Lüftungsschächte und Treppen ohne Ausstieg sind für Amphibien aber gefährliche Fallen und sollten regelmäßig überprüft werden.
Dachböden. Sie sind gute Ersatzhöhlen, in denen Tierarten ungestört ihren Nachwuchs aufziehen können und auch ein sicheres Winterquartier finden. Die klugen Dohlen sind typische Kulturfolger. Als Höhlenbrüter nisten sie gern in Türmen, Kaminen, Mauernischen und Dachböden. Wird umgebaut, saniert oder gedämmt, verlieren die Vögel häufig ihren Brutplatz. Was kann man tun? Geeignete Nistkästen anbringen! Auf der Suche nach einem Dach über dem Kopf werden Siebenschläfer oft zu „Untermietern“ in Gebäuden, doch nicht jeder Hausbesitzer freut sich darüber. In der Nacht können die Tiere ziemlich laut sein, obwohl sie im Allgemeinen keinen großen Schaden anrichten, immerhin schlafen sie sieben bis acht Monate im Jahr. Auch wenn das Zusammenleben in manchen Situationen vielleicht etwas ärgerlich sein kann, bringt es Freude und Faszination, mit wilden Tieren in enger Nachbarschaft zu wohnen.
Strukturreiche Fassaden. Zumeist an Altbauten zu finden, sind sie ideale Ersatzlebensräume für ursprüngliche Felsenbewohner und Felsenbrüter wie den Mauersegler. Er ist ein ausgezeichneter Flieger, verbringt fast sein ganzes Leben im Flug und kann dabei auch schlafen und fressen. Zum Brüten und zur Aufzucht muss er jedoch eine Pause einlegen. Dann nistet er auch in der Stadt, und zwar bevorzugt an hohen alten Gebäuden, wo sich viele „Wohnformen“ finden: in Hohlräumen im Dachsims, in Mauerspalten, hinter Dachverkleidungen, unter Ziegeln oder hinter Dachrinnen. Balkone in der Stadt gleichen einem Felsplateau: Von Menschenhand gebaut, ragen sie aus der „Steilwand“ am Straßenrand. Für uns sind sie Gestaltungselement, Aussichtsplattform und Entspannungsort. Mit einfachen Mitteln lassen sie sich in grüne Mini-Paradiese verwandeln, wo auch Bienen, Schmetterlinge und Vögel schnell einen Platz zum Leben finden.
Wildes Blattwerk. Die Stadt ist ein „hartes Pflaster“ für Pflanzen: Flächen werden versiegelt, Niederschlagswasser fließt daher rasch ab, es herrscht Hitze und Trockenheit. Entlang der Straßen kommt es zu Belastungen durch Streusalz, Schwermetalle und andere Ablagerungen wie den Hinterlassenschaften der Hunde. Trotz dieser schwierigen Lebensbedingungen ist die Pflanzendiversität in der Stadt aber oft sogar höher als auf dem Land, denn auch sie wird durch die Vielfalt an Strukturen und Lebensräumen, die hier zu finden sind, begünstigt. Häufig ist uns gar nicht bewusst, in welch ungemütlichen Nischen sich Pflanzen in der Stadt ansiedeln. Die Natur quillt quasi aus allen Fugen und krallt sich in jeder Ritze fest. Das zu beobachten, ist vielleicht nicht spektakulär, zwischen Beton und Asphalt aber imponierend. Wildblumeninseln sind kleine Flächen mit großer Wirkung. Durch vielfältigen Pflanzenbewuchs kann selbst eine wenige Quadratmeter große Blumeninsel zu einem Verkehrsknotenpunkt für zahlreiche Insekten werden und zum Erhalt der Artenvielfalt beitragen.
Überlebenskünstler. Der Breitwegerich etwa kann mit einer bis zu 80 cm langen Wurzel selbst dort noch wachsen, wo andere Pflanzen aufgeben müssen und ist auch gegenüber Streusalz unempfindlich. Auch der Löwenzahn gedeiht sogar zwischen Pflastersteinen und in Mauerritzen. Ein höchst erfolgreicher Stadtbewohner ist der Götterbaum, der hier Straßenränder, Brachflächen und sogar Gehsteigritzen besiedelt und Streusalz, Trockenheit und Abgasen mehr Widerstand leisten kann als viele andere Bäume. Konkurrenzstark macht ihn seine Fähigkeit zum intensiven Stockausschlag. Schneidet man ihn um, treibt er aus dem Wurzelstock reichlich wieder aus. Als invasive gebietsfremde Pflanzenart verdrängt er aber viele heimische Arten. Randzonen von Fußwegen und Straßen sind besonders schwierige Lebensräume. Menschliche Tritte, Autos und LKWs verursachen Bodenverdichtung, Wasserstau und Sauerstoffarmut, Abrieb von Bremsbelägen und Reifen reichert sich an. Im Winter setzt Streusalz, im Sommer regelmäßige Mahd der Vegetation zu. Pflanzen und Pilze, die hier wachsen, trotzen all diese Widrigkeiten erfolgreich. Ein richtiger „Rowdy“ ist der Stadt-Champignon, der sogar mehrere Zentimeter dicke Asphaltdecken aufbricht.
Korridore für die Natur. Wildtiere brauchen verbindende Elemente zwischen ihren Lebensräumen. Für Igel, Erdkröte, Grasfrosch und andere, die „zu Fuß“ unterwegs sind, werden etwa Gärten erst durch gegenseitige Vernetzung so richtig wertvoll. Wenn diese aber hermetisch abgeriegelt sind, mit dichten Zäunen und hohem Grundsockel oder Mauern, dann ist das wie ein Hindernis, eine unüberwindbare Barriere. Der Weg zu Futter, Jagd- bzw. Laichplätzen bleibt versperrt. Muss ein Igel weite Strecken an Mauern entlanggehen, um einen Durchgang zu finden, so wird er zur leichten Beute. Kleine Löcher im Zaun als „Grenzübergänge“ für Kleintiere sind eine wichtige Hilfe. Im besten Falle können sich Gartennachbarn sogar auf eine Hecke mit heimischen Wildsträuchern als Alternative zum herkömmlichen Zaun einigen. In den Haus- und Kleingärten der Stadt können wir wichtige Beiträge leisten, indem wir auf ökologische, naturnahe Gestaltung und nachhaltige Bewirtschaftung achten. Heimische Sträucher und Bäume, Blumenwiesen, Natursteinmauern, Totholzhaufen und „Wilde Ecken“ fördern die Artenvielfalt ebenso wie Kräuter-, Obst- und Gemüsegärten, Komposthaufen und Nützlingshotels.
Tiere schützen. Glasscheiben zählen für Vögel im urbanen Bereich zu den gefährlichsten Todesfallen. Jedes Jahr sterben in Österreich hunderttausende an transparenten Lärmschutzwänden, Busstationen, Verbindungsgängen, Wintergärten oder Terrassentüren. Manchmal überleben die Tiere die Kollision, gehen aber im nächsten Gebüsch kläglich zugrunde oder werden orientierungslos von einer Katze gefasst. Die bekannten Greifvogelsilhouetten auf der Scheibe sind als Gegenmaßnahme völlig wirkungslos, nur Markierungen, Linien und Muster auf den Glasflächen können helfen. Keller- und Lichtschächte und Kanaldeckel stellen für wandernde Wildtiere ebenso Gefahrenquellen dar, wie Elektrosensen, Rasenmäher, Schwimmbecken. Durch umsichtige Gestaltung und Pflege des Gartens lassen sich viele dieser Gefahren entschärfen, etwa durch feinmaschige Gitter über den Öffnungen und schräg gestellte Bretter als Ausstiegshilfen an Kelleraußenstufen. Künstliche Beleuchtung im Außenbereich schadet zahlreichen Tierarten wie Fledermäusen, Vögeln, Nachtfaltern und anderen Insekten. In Hausgärten sollten daher den Tieren zuliebe die Nächte dunkel bleiben und Außenbereiche nur dort beleuchtet werden, wo es unbedingt notwendig ist und nur, solange das Licht wirklich gebraucht wird.
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Mag. Ronald Lintner, Wissenschaftlicher Leiter des Hauses für Natur im Museum Niederösterreich
wua-wien.at/naturschutz-und-stadtoekologie/lichtverschmutzung
wua-wien.at/images/stories/publikationen/wua-vogelanprall-muster-2022.pdf
Das länderübergreifende Gemeinschaftsprojekt „StadtWildTiere“ sammelt seit mehreren Jahren gemeinsam mit der Bevölkerung Wildtierbeobachtungen in Zürich, Berlin und Wien. Ziel ist es, die Bevölkerung für die Vielfalt der Wildtiere zu sensibilisieren, mit ihr gemeinsam Wildtiere zu erforschen und Wissenslücken zu schließen. Die aus den Resultaten erhaltenen Erkenntnisse helfen schließlich, die Wildtiere im Siedlungsgebiet besser schützen und fördern zu können.
In der heutigen Zeit, in der der Verlust von Lebensraum ein zentrales Problem für viele Tierarten darstellt, ist es besonders wichtig, dass wir unsere Mitbewohner aus der Natur schützen und fördern.
Stark gefährdet. Fledermäuse sind faszinierende Lebewesen und zugleich zählen sie zu den gefährdetsten Säugetierarten Österreichs. Sie finden häufig Unterschlupf in Dachböden oder Fassaden von Gebäuden, ohne wirklich bemerkt zu werden. In der Regel stellt diese Koexistenz kein Problem dar, da sie lediglich die vorhandenen Hohlräume nutzen, ohne sie zu verändern oder gar zu schädigen. In Niederösterreich gibt es 25 verschiedene Fledermausarten, die je nach Gemeinde unterschiedlich häufig vorkommen. Jede Art hat spezielle Ansprüche an die für sie passenden Quartiere. So bevorzugt die Kleine Hufeisennase oft großräumige Dachböden, während sich die Zwergfledermaus gerne in enge Spalten an Gebäuden zwängt. Diese Quartiere müssen bestimmte Bedingungen erfüllen, wie geeignete Temperatur- und Feuchtigkeitsverhältnisse und eine gute Anbindung an Jagdgebiete.
Fledermauskästen anbieten. Um spaltenbewohnenden Fledermäusen geeignete Quartiere zu bieten, finden Einbausteine oder spezielle Fledermauskästen Anwendung, die weder dem Gebäude schaden noch die Hausbewohner stören. Gerade im öffentlichen Raum oder bei Neubauten lassen sich solche speziell gestalteten Quartiere in die Fassade integrieren, ohne dass sie von außen sichtbar sind. Sie lenken die Tiere dorthin, wo sie uns nicht zu nahekommen. Auch bei Renovierungen sollten Fledermäuse berücksichtigt werden, da bereits die kleinste Veränderung zu einem Quartierverlust führen kann. Dieser Umstand birgt neben Herausforderungen auch Perspektiven zum Schutz dieser Tiere. Mit Wohlgesonnenen aus Architektur und aus der Stadtplanung lassen sich zusammen mit Hausbesitzerinnen und Hausbesitzern Lebensräume für Mensch und Tier bewahren oder sogar verbessern. Ganz im Sinne vom „animal aided design“ (AAD), einer eigens entwickelten Methode zum Schutz und zur Förderung wild lebender Tierarten. In München wurde in der Brantstraße das weltweit erste Wohnungsbauprojekt fertiggestellt, welches das Konzept von AAD umsetzt. Die Ideen und Methodiken sind also da, wir müssen sie nur noch gemeinsam verwirklichen, um den Fledermäusen geeignete Lebensräume und uns eine lebenswerte Umwelt in Zukunft zu sichern.
Mag.a Katharina Bürger, Länderkoordinatorin für NÖ Koordinationsstelle für Fledermausschutz und -forschung in Österreich (KFFÖ)
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